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Freitag, 4. August 2017

Vom Unkrautgourmet zum Insektengourmet

Insektenessen - reine Kopfsache

Insekten zum Essen, hübsch verpackt, aber schon längst in aller Munde.
Böse Zungen behaupten, bei mir gibt es so selten Fleisch, weil ich genug Insekten (mit)essen. Wer weiß...Jedenfalls möchte ich euch heute mitnehmen zu einen Ausflug in den Welt der Enthomophagie, des Insektenessens. Und wer nun glaubt, das betrifft ihn nicht, der irrt sich sehr.
Sicher: Bei den wenigstens wird es Mehlwurm in Aspik geben. Und wer zugibt Entomophage zu sein, der wird in Deutschland nach wie vor für einen "Spinner" gehalten - eine Mischung aus Spinne und Spanner - beides essbare Insekten. Passt. Dabei kannte die (Nach-)Kriegsgeneration noch Engerlingsuppe und kandierte Maikäfer und das ist gar nicht so lange her.

Suppe aus Engerlingen - kann man sich heute kaum mehr vorstellen, allenfalls
im Überlebenskurs.

Unkraut und Insekten - zu Unrecht verschmäht

Warum nun dieses Thema? Weil Unkraut und Insekten zusammen gehörten, weil beides stiefmütterlich behandelt wird und nur durch die Zugpferde "Biene" und "Bärlauch" in der Öffentlichkeit Beachtung finden. Über 25% aller Ackerunkräuter stehen auf der Roten Liste - und es werden immer mehr. Mit ihnen sterben die, die in der Monokultur keine Nahrung mehr finden oder vergiftet werden: die Insekten. Liebe geht durch den Magen. Unkraut esse ich schon lange. Warum also nicht Insekten? Unbewusst konsumiere ich die nämlich schon seid Kindertagen - seid meinem ersten nicht gespritzen Baby-Apfelsaft. Es wird Zeit sich ein paar Dinge vor Augen zu führen.
Kandiere Maikäfer kannte meine Uroma noch.

Schneewittchenapfel oder Made

Wäre dieser Apfel in der Saftpresse gelandet, man hätte nie erfahren, was darin gewohnt hat.
Hätte die Hexe im Märchen Schneewittchen gesagt: "Hier mein hübsches Kind hast du einen vergifteten Apfel oder hier eine Made. Entscheide, wo du reinbeißen willst!" Was hätte Schneewittchen wohl gewählt? Wofür hättet Ihr euch entscheiden? Schneewittchen hatte keine Wahl, aber wir haben sie. Dennoch wählen die meisten den giftigen Apfel. Warum?
Der eine oder andere weiß, dass ich in die Welt des Streuobstbaus abgetaucht bin und da wimmelt es bekanntlich vor Krabbeltieren - auf und im Obst. Ich esse lieber ungespritztes Obst und ein ungiftige Kirschmade, als einen mit sonst was gespritzen Schneewittchenapfel -  eben jene absolut perfekte Frucht, über die ich absolut gar nichts weiß, außer das sie zu 100% gespritzt wurde und das gleich mehrfach. Womit? Keine Ahnung. "Hier mein Kind, hast du einen vergifteten Apfel...." Über unsere Lebensmittel wissen wir eigentlich gar nichts. Ist das nicht erschreckend?

In den Saftkeltereien werden die Äpfel grob gewaschen und landen dann
im Stück im Muser. Keiner macht sich die Mühe vorher alle Tiere aus
den Äpfeln zu schneiden.
Selbst beim Pressen per Hand gilt: Alles rein, solange es nicht schimmlig ist.
Und wer in der Maische einen zerquetschten Wurm erkennt, der muss
schon Molekularbiologe sein. Selbst gekelteter Apfelsaft! Es gibt nichst,
was besser schmeckt. Ob es an den mitgepressten Bio-Apfelwicklern liegt?

Unbewusst und schlecht gekaut - zugeflogenes Zufallsessen

In der Tat werde ich - wie ihr alle auch - in meinen Leben wohl schon sehr viele Insekten versehentlich und unwissend mitgegessen haben. Wie viele Käfer ich allein beim Radfahren verschluckt haben, kann ich gar nicht sagen. Verdaut hab ich sie alle. Egal ob 10 g oder 10 kg - geschadet hat mir das nicht. Und auch im Unkraut es ist wirklich nicht einfach immer jeden Käfer heraus zu fischen. Da kann man noch so sehr schütteln und waschen. Hilft nur gut durch zu kochen oder braten, dann ist der Käfer wenigstens gar.

Insektensterben und Insektenessen

Und dann sind da die Kirschen. Viele alte Sorten schmecken göttlich - trotz Maden. Mich stören die nicht mehr, denn sie bringen mich nicht um. Was mich und zahlreiche Insekten umbringt, ist das Gift im Essen, das wir zu Tonnen überall versprühen damit bloß keine Made in irgendwas drin ist, um uns dann über das Insektensterben zu wundern. Provokant auf den Punkt gebracht: Entweder ich akzeptiere das zum Teil madige Obst oder trage zum Insektensterben bei. Absichtlich provokant! Ihr sollt ja nachdenken. Es gibt auch Bioobst ohne Maden, das vor Insektenflug eingenetzt wurde usw., aber das lassen wir mal außen vor, bevor wir wieder anfangen uns irgendwas schön zu reden. Gespritztes Obst versuche ich zu vermeiden, einfach, weil meine Familie schon mannigfaltige Erfahrungen mit dem Thema Krebs machen musste. Damit leben wir länger und die Insekten auch.

Kulinarische Schädlingsbekämpfung ist wie Unkraut essen

10 kg Kirschen - mit Sicherheit sind davon 100 g Maden.
Doch jeder der Kirschen nicht spritzt weiß, dass ab Juni in so ziemlich jeder Kirschen wenigstens ein Lebewesen herumkriecht. Seid gut 10 Jahren ist auch noch die Made der Kirschessigfliege hinzugekommen, die aus Übersee eingeschleppt wurde. Anfangs hab ich versucht die Tiere heraus zu pulen. Heute esse ich die Maden - im jungen Stadium - einfach mit. Der beste Weg der Schädlingsbekämpfung... ist wie Unkraut aufzuessen, statt es weg zu spritzen.

Kirschmaden schmeckt nach Kirsche - wonach auch sonst? Und nein, ich schaue nach wie vor nicht rein in die Kirsche. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß...aber ich weiß es ja, warum stört es mich dann nicht? Insektenessen ist reine Kopfsache. Nur unser kultureller Ekel ist die Barriere, die es zu überwinden gilt. Dafür muss man noch nicht mal in ein teures Insektenlokal marschieren, da reicht die nächste Streuobstwiese.

Von nicht-vegane Kirschen und fleischhaltigem Apfelsaft

Wer sieht sie, die Kirschmade?
Seitdem esse ich ich Kirschmaden quasi im Halbbewußtsein mit. Jeder der mal gesehen hat, wie ein Schwein ausgenommen wird, sollte eigentlich vor einer winzigen Made keine Scheu haben. Klar, wenn sie in den Mund kommt, lebt sie, ist aber spätestens mit den ersten Bissen auch nur ein totes Tier. Vegetarier-Dasein ade.

Der Pfeil offenbart das tiereische Innenleben einer Streuobstkirsche. In den Schale waren dann
noch 10 weitere. Keine hat die kulinarische Schädlingsbekämpfung überlebt.
Gleiches gilt auch für den guten Streuobstwiesen- oder Bio-Apfelsaft. Auch da sind haufenweise diverse Tiere mit rein gequetscht worden. Apfelsaft ist nie vegan, schon gar nicht, wenn er "Öko" ist. Vegan steht da nur manchmal drauf, wenn zum Klären keine tierische Gelatine verwendet wurde, aber wenn die Äpfel nicht einzeln aufgeschnitten wurden und alle Apfelwickler und andere Bewohner eines Apfelgehäuses entfernt wurden, dann ist das "vegan" auf den Flaschenetikett eigentlich ein Etikettenschwindel. Die Menschheit ist mit Insekten im Essen aufgewachsen. Aber wie beim Apfelsaft und der Kirsche gilt: Was ich nicht weiß, kann ich ignorieren....wenigstens stellt der Kopf auf Unwissend und der Magen ist ohnehin blind. Es ist aber eine Utopie zu glauben, man würde keine Insekten zu sich nehmen. Wir tun es...warum also nicht bewusst?

In drei Schritten zum Entomophagen

Nachdem ich mir dessen klar war, machte ich den Selbstversuch: in 3 Stufen vom Unkrautgourmet zum Insektengourmet.

Schritt 1: Esse eine Kirschmade.

Von Weitem betrachtet, mag man sich mit einer Kirschmade anfreunden können. So nah
herangezoom vergrößert sich aber auch der Ekel. Es kostet schon Überwindung die Made
pur zu essen.
Die einfachste Aufgabe, weil schon 1000fach unbewusst gegessen: Kirschmade. Dieses Mal aber pur aus der  Kirsche gepult und bei vollem Bewusstsein. Wah! Lebendfutter. Zugegeben: Wenn einen die Made anguckt, kostet es Überwindung sie zu esse. Die Made ist aber echt klein. Meine Zähne hingegen echt groß. Die Made zieht eindeutig den kürzeren. Kopfsache. Dennoch starrte ich mein Opfer einige Minuten an, bevor ich es verzehrte..Ich esse die Kirschmade nach wie vor lieber nett verpackt in einer Kirsche, als pur :), am liebsten esse ich natürlich Kirschen ohne Maden. Aber ich kann es: Insekten essen bei vollem Bewusstsein.

Schritt 2: Insektenriegel.

Man sieht das den Riegeln von Sens Foods in keinster Weise an, dass diese auf  Basis
von Insektenmehl hergestellt werden. Einziges Manko, das ich festgestellt habe: Bis auf den Riegel
mit Ananas waren alle etwas trocken. Zum Kaffee schmecken die aber prima :D
So eine Made ist winzig. Wie steht es mit größerem? Ich saß eine ganze Weile vor einen Päckchen voller küchenfertiger Heuschrecken....nein, das kann ich - noch - nicht. Ein anderer Weg musste her und an dieser Stelle kam Sensbar ins Spiel.
Hier möchte ich  Bogdan und Micha von Sens Foods für die zweite Packung Insektenriegel danken! Ich mache das Experiment "Insektengourmet" mittlerweile auch für Schüler und andere Gruppen. Schule ist Kopfsache. Insektenessen ist auch Kopfsache. Es gilt neue Erfahrungen zu sammeln und seine eigene Meinungen zu bilden. Viele Kinder sind wirklich mutig und nehmen das echt positiv auf.
Dennoch saß ich anfangs erstaunlich lange vor den Riegeln aus Insektenmehl. Drei Tage lang braucht ich, bis mein Kopf sich an den Gedanken gewöhnt hatte, da rein zu beißen. Kinder machen das binnen Minuten. Kein Witz. Verrückt. Reine Kopfsache. Ich scheine einen Sturkopf zu haben. Doch nachdem der erste Bissen getan war, waren die Riegel schneller weg, als ich dachte. Vor allem den mit "Ananas" und "Orange und dunkle Schokolade" fand ich richig gut. Wie die Riegel pur ohne aromatische Zutaten schmecken, das würde ich gern mal wissen...

Sensbar von Sens Foods und der Schritt ins Reich der Insektenesser

Keine Angst vor Käfern...oder Grillen, denn aus denen
sind die SensBars gemacht.
Crowdfounding sei Dank bin zufällig auf Sensbar gestoßen und fand das Projekt faszinierend. Ob Insektenproteinriegel unsere Ernährung revolutionieren werden, glaube ich zwar nicht, aber vielleicht helfen sie beim Umdenken, Insekten bewusst in die Küche zu bringen. Mich hat es zum Nachdenken angeregt, auch wenn ich nach wie vor der Meinung bin, unsere Insekten zum Essen sollten zukünftig vor Ort produziert werden - vielleicht sind z.B. Bienenlarven vom heimischen Imker eine Option für die Küche (ich weiß, das wird schon gemacht, aber jetzt kann ich mich damit anfreunden). Wie auch immer: Ein Riegel und 1000 neue Ideen. Dafür meinen Dank an das Sens Foods-Team!

Schritt 3: Heuschrecke am Stück

Auch das kann man kaufen: Küchenfertige Heuschrecken am Stück.
"Wie die Riegel pur ohne aromatische Zutaten schmecken, das würde ich gern mal wissen..." Und so zündete ich Stufe 3: Esse Heuschrecken. Nach der Made und dem Riegel war das ein Klacks...oder? Es ist tatsächlich noch mal ein Stück Überwindung mehr, eine Grille oder Heuschrecke frittiert am Spieß zu essen. Aber im Speckmantel ist das wie Kirschmade im Kirschmantel. Happs und weg. Tatsächlich war mein eigener Kopf nach der Zubereitung der Tiere in der Pfanne mit dem Gedanken schnell angefreundet, die etwas spröden Heuschrecken auch zu essen. Meine Familie rümpfte allerdings die Nase...aber das haben sie auch vor vielen Jahren getan, als ich angefangen habe, Brennnessel in die Küche zu schleifen. Es braucht eben alles seine Zeit.
Zweimal Insekt zum Essen: als Grillenmehlriegel oder als küchenfertige Heuschrecke. Für den
Einstieg  in die bewusste Welt des Insektenessens finde ich die Riegel sympatischer:
ist wie Hackfleisch, statt Spanferkel.

Insektenessen, Insektenhotel, Insektensterben  - jeder entscheidet, jeder trägt mit

"Küss mich, ich bin eine verzauberte Prinsessin, aber bitte iss mich nicht!"
Wer kann da widersprechen?
Küchenfertige Insekten und Riegel sind leider relativ teuer: 4 Sensbars kosten 11,49 Euro,  eine Essbare Insekten Mischung* ebenfalls satte 11,99 Euro. Satt wird man davon jedoch nicht. Aber vielleicht hilft der Genuss der Insekten, diese Tiere von einen anderen Standpunkt aus zu betrachten. Für mich ist die Faszination "Insekt" noch gewachsen und ich werde mich wieder auf madiges Obst stürzen.  Das will eh keiner haben, aber jeder möchte ein Insektenhotel im Garten... verkehrte Welt. Aber es wird selbst für mich noch ein langer Weg, bis ich auf der Wiese sitze und frisch gefangene Heuschrecke am Lagerfeuer röste...ich schaue mir die Tiere lieber lebendig an, solange es sie noch in freier Wildbahn gibt...Weil wir ja den Schneewittchenapfel bevorzugen. Weil wir überall Gift spritzen: auf den Hopfenfelder, den Weinbergen, den Getreideäckern und Obstplantage, im heimischen Vorgarten und der Garageneinfahrt, in der Zierrabatte oder dem Gemüsebeet. Das Insektensterben hat jeder einzelne mit zu verantworten, ob er nun seinen englischen Rasen trimmt, Herbizide in die Pflasterfugen seiner Einfahrt sprüht oder Insektizide an seinem Haustier oder dem Gartenhäuschen anwendet, ob er Obst, Wein, Bier oder Getreideprodukte aus konventioneller Erzeugung kauft oder verwendet. Da hilft auch kein Insektenhotel. Insekten brauchen mehr. Alle Insekten. Sie brachen einen intakten Lebensraum. Sie brauchen eine Lobby. Es fängt im Kleinen an. Bei jedem einzelnen.

Zu schön zum Essen: eine wunderbar grüne Heupferdame. Hoffentlich ist sie
nicht an einer Autoscheibe zermatscht.